Imagine This – Das Stück

Imagine This

2016

Inhalt

Die Geschichte um Daniel Warshowsky spielt im Jahr 1942 im Warschauer Ghetto. Daniel leitet eine kleine Theatergruppe und hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Elend der Menschen im Warschauer Ghetto zu lindern, indem er sie durch Theateraufführungen in eine fremde Welt entführt und sie zumindest für einen kurzen Moment ihr Leid vergessen lässt. Er inszeniert das Theaterstück „Masada“, welches von der Belagerung der Juden durch die Römer um 70 n. Chr. handelt und somit eine Parallele zur Situation im Warschauer Ghetto darstellt.

Unter den Darstellern der Theatergruppe sind auch Daniels Tochter Rebecca und der Widerstandskämpfer Adam. Adam berichtet, dass regelmäßig Menschen aus dem Ghetto mit Zügen in das Vernichtungslager Treblinka gebracht werden. Er ist fest entschlossen, sich den Nazis im Warschauer Ghetto zu widersetzen und will daher zunächst nicht am Theaterstück teilnehmen, sondern lieber kämpfen. Daniel kann ihn jedoch davon überzeugen, dass auch das Theater eine Form des Widerstandes ist, da es die Menschen erfreue, anstatt sie in ihrem Leid allein zu lassen. Auch Rebecca ist zunächst skeptisch hinsichtlich des Theaterstücks, weil man die Menschen durch das Theater nicht vor ihrem Schicksal bewahren könne. Gleichwohl nimmt sie ihrem Vater zur Liebe daran teil.

Die Aufführung wird durch eine Gruppe Nazis unterbrochen, die den Menschen im Publikum verkündet, sie werden am nächsten Morgen mit den Zügen in ein „neues, besseres Leben“ fahren und sollten daher ihre Koffer mit ihren persönlichen Gegenständen bereithalten. Die Nazis bieten Daniel und der Theatergruppe dagegen eine sichere Ausreise in die Schweiz an, wenn sie die Menschen im Ghetto während ihrer Aufführung in Sicherheit wiegen. Es gilt, eine schwierige Entscheidung zu treffen.

Hintergrund

Anfangs wollte der israelische Komponist Shuki Levy ein Bühnenstück über die Belagerung in Masada verfassen. Autor Glenn Behrenbeim, dem Levy seine Idee und seine Musik vorstellte, lehnte es jedoch zunächst ab, diese Geschichte und insbesondere deren tragisches Ende – dem Massensuizid der Juden – zu Papier zu bringen. Schließlich entschieden sie sich, die Geschichte als Stück-im-Stück in einem Musical über Schauspieler im Warschauer Ghetto einzubetten. „Es ging plötzlich nicht mehr nur um Roben und Sandalen, sondern vielmehr um den metaphorischen Wert der Geschichte“, sagte Behrenbeim in einem Interview der Times. David Goldsmith erkannte die Chance, eine Geschichte von Bedeutung zu inszenieren und schloss sich dem Team an.

„Imagine This“ verdeutlicht durch die parallele Darstellung der Geschehnisse im Warschauer Ghetto und in Masada, dass sich Krieg, Verfolgung, Machtgier und Völkerhass nicht an Jahreszahlen festmachen lassen, sondern in der Geschichte der Menschheit immer wieder auftreten und eigentlich allgegenwärtig sind. Durch den anhaltenden Bürgerkrieg in Syrien und die damit verbundene Flüchtlingspolitik ist diese Thematik leider einmal mehr aktuell geworden. Das Stück konfrontiert den Zuschauer mit der Frage, wie ein jeder selbst in einer vergleichbaren Situation reagieren würde: Würde man sich in Zeiten der Belagerung und Unterdrückung dem stärkeren Regime fügen? Würde man fliehen? Oder würde man den Mut aufbringen, um Widerstand zu leisten – selbst wenn dies das eigene Leben kosten könnte?

Stell es dir vor…

Im Bühnenprojekt „Imagine This“ macht sich die zentrale Figur des Daniel Warshowsky die Kraft der Fantasie zunutze, um sein Theaterpublikum im Warschauer Ghetto in eine fremde Welt zu entführen. Er will die Seelen seiner Zuschauer nähren, ihnen einen Weg zeigen, sich an einen besseren Ort zu träumen und sie für einen kurzen Moment den grausamen Alltag im Ghetto vergessen lassen.

Für unser Ensemble galt es, sich mit Hilfe der Fantasie emotional in eine genau gegenteilige Situation zu versetzen. Die meisten von uns mussten sich aus einem zufriedenen und freien Leben und aus einer heilen Welt in ein Leben voller Angst, Elend und Not hineindenken. Einige wenige mussten in die extremen Rollen von SS-Soldaten schlüpfen. Doch wie gelingt es, Armut und Notleiden oder gar Hoffnungslosigkeit auf der Bühne authentisch zu inszenieren, wenn wir doch selbst – zum Glück – noch niemals Krieg oder wirkliches Elend erfahren haben? Wie verkörpert man das Gefühl von Hunger, wenn sich doch jeder problemlos am heimischen Kühlschrank bedienen oder im Supermarkt alles kaufen kann, was das Herz nur begehrt? Wie kann man solch eine Menschenverachtung empfinden, wie sie die Täter des Nationalsozialismus‘ den jüdischen Menschen entgegen gebracht haben?

Stell es dir vor… Aber wie nur?!

Zumindest eines hat unser Ensemble mit dem Ensemble um Daniel Warshowsky gemeinsam: die Liebe zum Theater und zur Musik. Im Warschauer Ghetto spielten Musik und Theater, aber auch Literatur und die bildenden Künste tatsächlich eine große Rolle. Genau wie im Musical „Imagine This“ versuchten die Menschen, sich abzulenken und ihren Alltag hinter sich zu lassen. Durch ein Mitwirken in einer Theatergruppe beispielsweise konnte man sich in andere Welten, andere Personen, andere Zeiten und Emotionen versetzen. Auch beim Spielen eines Instruments oder in der Malerei konnte man sich völlig verlieren und seinem Geist Flügel verleihen. Aber nicht nur die Akteure, sondern auch das Publikum fühlte sich durch das Lauschen von Musik oder literarischen Lesungen, sowie durch das Betrachten von Theaterspielen und Kunst entführt in eine andere, bessere Welt. Tatsächlich gab die Kunst den Menschen Hoffnung und Halt und bestärkte sie in dem Glauben daran, dass es noch schöne Dinge auf der Welt gibt, wenn man seinen Blick nur aufmerksam darauf richtet.

Das Engagement in und das Interesse an künstlerischen Bereichen half den Menschen jedoch nicht nur dabei, emotional aus einem Leben voller Not und Elend zu entfliehen. Oft war der Gang in ein Theater oder der Besuch einer Lesung auch eine räumliche Flucht aus der Enge des eigenen Zuhauses. Immerhin lebten im Ghetto meist zwei Familien, also bis zu zehn Leute in nur einem einzigen Zimmer. Außerdem war es gerade für die Akteure eine Möglichkeit, durch ihre Werke etwas zu hinterlassen, was nach ihrem Tod an sie und an ihr Leben erinnert. Auf diese Weise gaben viele Menschen ihrem Leben trotz aller Armut und Not noch einen Sinn.

Doch nicht jeder konnte sich in Musik und Kunst verwirklichen.

Frau Dr. Kristin Platt vom Institut für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum, die im Rahmen ihrer Forschungen zahlreiche Bewohner des einstigen Warschauer Ghettos getroffen und interviewt hat, teilte ihre eindrucksvollen Erfahrungen über das Leben und über den Alltag im Ghetto mit unserem Ensemble: Geplagt von Hunger, Kälte und dem Wohnen auf engstem Raum kämpfte der Großteil der Bevölkerung des Ghettos Tag für Tag um das nackte Überleben. Wenn es die eigenen Kräfte zuließen, versuchte man, einer Arbeit nachzugehen. Dadurch ergab sich zumindest ein geregelter Tagesablauf und eine kleine Ablenkung von der täglichen Grausamkeit. Außerdem wurden alle Arbeiter von ihren Arbeitgebern mittags mit einer warmen Suppe und einem Stück Brot versorgt. Das Brotstück wurde jedoch von den wenigsten selbst verzehrt, sondern zu ihren Familien nach Hause mitgenommen, um auch diese zu ernähren. Je mehr Personen einer Familie Arbeit hatten, umso größer war die Chance, dass die Familie überlebte. Eltern versuchten sogar, ihre Kinder älter wirken zu lassen, um sie in einer Arbeitsstelle unterzubringen und zumindest regelmäßig mit Nahrung versorgt zu wissen. Wer mit Lebensmitteln versorgt war, konnte sich reich schätzen unter den Bewohnern des Ghettos. Hunger war die größte Sorge der Bevölkerung. Aus Angst vor dem grausamen Tod durch Verhungern nahmen sich manche sogar freiwillig das Leben.

Frau Platt bescherte uns auch einen interessanten und wichtigen Einblick in die Psyche der damaligen Täter des Nazianalsozialismus‘. Sie berichtete, dass den deutschen Soldaten eingebläut wurde, dass es Spaß mache, Juden zu töten. Viele der deutschen Soldaten empfanden das Töten von Juden tatsächlich als Spaß oder gar als eine Art sportliches Vergnügen. Ein gängiger Usus im Ghetto war es beispielsweise, die Juden, welche nach Einbruch der Dunkelheit noch nicht in ihre Wohnungen zurückgekehrt waren, ähnlich einer Treibjagd durch die Straßen des Ghettos zu scheuchen und schlussendlich zu erschießen.

Wenngleich wir wohl niemals werden nachvollziehen können, wie man sich als Bewohner des Ghettos oder auch als Täter des Nazianalsozialismus‘ gefühlt haben muss, so konnte Frau Dr. Platt uns gleichwohl sehr viele Fragen beantworten, was uns die Interpretation unserer Rollen auf der Bühne erleichterte. Auch ein Besuch einer der Thematik entsprechenden Ausstellung in der Villa Ten Hompel in Münster brachte dem Ensemble ein wenig Aufschluss.

Und dennoch blieben so viele Fragen offen.

Wie können wir uns die Gegebenheiten im Warschauer Ghetto vorstellen? Welch bedrohliche Wirkung hatte ein Konzentrationslager?

Mit diesen Fragen reisten Ingo Budweg und Canan Toksoy (künstlerischer Gesamtleiter und Regisseurin des FME) schließlich nach Warschau, um die originalen Spielstätten von „Imagine This“ zu besichtigen. Darüber hinaus diente die Reise dazu, sich noch intensiver mit der Materie des Stücks auseinanderzusetzen und die Thematik in ihrer gesamten Komplexität zu begreifen. 

Zum umfassenden Reisebericht

Und all dies vereinte sich auf unserer Bühne.

Ein besonderes Anliegen des Projekts bestand aber nicht nur darin, die bewegenden Eindrücke und die emotionalen Erfahrungen in eine Inszenierung einfließen zu lassen, um sie an das Publikum weiterzutransportieren. Unser Streben galt auch und ganz besonders dem Ziel, an die schrecklichen, unmenschlichen Taten jener Zeit zu erinnern, der vielen, unschuldig zu Tode gekommenen Menschen zu gedenken, und zu mahnen, dass diese Taten nie wieder geschehen dürfen.

Wissenswertes

Buch: Glenn Berenbeim 
Musik: Shuki Levy
Text: David Goldsmith
Uraufführung: 19. November 2008, New London Theatre, GB
Deutsche Erstaufführung: Freies Musical-Ensemble Münster im Oktober/November 2016
Dauer: ca. 3,5 Stunden + Pause