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    Parade – Was Leo Frank zum Verhängnis wurde

    Parade

    2017

    Geschichtliche, soziokulturelle und persönliche Hintergründe

    Atlanta ist ein wichtiger Charakter im Stück, sagt Jason Robert Brown, der Komponist von Parade. Und ohne den geschicht­lichen und soziokulturellen Hintergrund des ausge­henden 19. Jahrhunderts von Georgia und Atlanta zu berücksichtigen, könnte es passieren, dass man den Lynchmord an Leo Frank als rein antisemitischen Akt auffasst. Keine Frage, der Mord war antisemitisch motiviert. Jedoch war er weit mehr als das, denn Leo Frank repräsentierte alles, was dem besiegten Süden hassenswert erschien, weil es ihr Leben elend machte. Er war ein Yankee, er war Jude, und möglicherweise das Schlimmste in ihren Au­gen: Er war ein Boss. 

    Der Süden hatte den Krieg verloren. Ein Großteil des Landes war zerstört, seine Währung war wertlos, In­frastruktur vernichtet. Hohe Verluste an Menschenleben – auf beiden Seiten, denn der Krieg hatte mehr als 620.000 Soldaten das Leben gekostet. Die Zivilbevölke­rung (ver)hungerte, konnte ihr altes Leben nicht wieder aufnehmen. Zwei Drittel von Atlanta waren zerstört. Die Menschen waren hei­matlos, entwurzelt, ihre Le­bensweise und Kultur wert­los in den Augen der Sieger. Eine Zivilisation vom Win­de verweht. 

    Die Rekonstruktionszeit, die geprägt war von gra­vierenden Veränderungen durch das Diktat des Nor­dens, hatte eine romantische Verklärung der Vorkriegsge­sellschaft des alten Südens entstehen lassen. „Das Land der Gentlemen und Baum­wolle, das man den Alten Süden nannte – hier, in die­ser schönen Welt, verbeugte sich die Galanterie zum letz­ten Mal. Hier konnte man die letzten Ritter und edlen Damen sehen, Herren und Sklaven. Heute ist dieser fast vergessene Traum nur noch in Büchern zu finden.“ Die berühmte Einleitung zu einem der bekanntesten Filme der Welt, „Vom Win­de verweht“, macht genau dieses Gefühl des Verlusts deutlich, das viele (insbe­sondere der ärmeren Bevöl­kerung) schmerzlich fühlten und was sie verbittern ließ. 

    Soziale Spannungen

    Allein in Atlanta lebten 50.000 Menschen, die Verlie­rer des neuen Systems, in ka­tastrophalen Verhältnissen in weißen Slums, während es sich die Kriegsgewinnler und reichen Investoren aus dem Norden von der Peach-tree Street und Washington Avenue auf ihre Kosten gut gehen ließen. 

    Die einstmals galanten Gentlemen des Südens, die sich ritterlich um die Gunst der Südstaaten­schönheiten bemühten und denen ihre Ehre gebot, Jungfrauen in Nöten zu retten, hatten ausgedient. Ihr Selbstwertgefühl lag am Boden. Sie schufteten in Fa­briken, wenn sie überhaupt eine Arbeit in der Stadt fan­den. Ihr Verdienst lag um 37% unter dem Verdienst eines Arbeiters im Norden und reichte nicht aus. Viele Familien hungerten.

    Sie, die Beschützer und Er­nährer ihrer Familien, konn­ten ihre Familien nun nicht mehr ernähren. Und auch nicht beschützen, denn sie mussten ihre Frauen, ihr Söhne und Töchter den rei­chen Bossen überlassen, die sie in ihren Fabriken aus­beuteten und vor deren se­xuellen Übergriffen sie ihre Väter und Ehemänner nicht schützen konnten. Die Wut der ärmeren Bevölkerung wandelte sich in Hass. 

    Mary Phagan als Sinnbild

    Mary Phagan repräsentierte für diese Menschen auf na­hezu perfekte Art das reine unschuldige Opfer, obgleich ihre Familie nicht in bitterer Armut lebte. Sie machten aus ihr ein Opfer der ver­kommenen reicheren Un­terdrückerschicht, die sich alles herausnehmen konnte und zu der in ihren Augen Leo Frank gehörte. Und der sich ihrer Meinung nach durch die Einmischung des Geldadels seiner gerechten Strafe entziehen konnte, weil Gouverneur Slaton Leo Franks Todesstrafe in lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt hatte. Mary Phagan wurde zum Sym­bol der Misere der ärmeren Bevölkerung. Sie alle sahen sich selbst in Mary als Op­fer und die Tatsache, dass sie nicht in der Lage waren Mary zu helfen, geschweige denn, über ihren Mörder zu richten, machte sie wütend. Sie fühlten sich erniedrigt, nannten Slaton einen Verrä­ter und hängten vor seinem Haus eine lebensgroße Pup­pe, mit einem Schild mit der Aufschrift: „Verräter Slaton – König der Juden“. 

    Antisemitismus und Populismus

    Die antisemitische Stim­mung wurde von Tom Wat­sons flammenden Hetz- und Schmähschriften in seiner Zeitung „The Jeffersonian“, angeheizt. In den Artikeln wurde infrage gestellt, ob die Juden der weißen Ras­se angehörig seien und sie wurden für die wirtschaft­liche Misere großer Teile der Bevölkerung verant­wortlich gemacht, denn einige von ihnen waren wohlhabend und besaßen gut gehende Geschäfte. Die gelegentlichen Anfein­dungen wurden im Laufe der Verhandlungen immer häufiger. Die Artikel trugen Überschriften wie: „Sind Juden weiß?“ oder: „Die verzweifelten Versuche des großen Geldes, Verbrecher zu schützen“. Darin stand: „Ganz Georgia wurde VER­GEWALTIGT… Judengeld hat uns erniedrigt, gekauft und verkauft, und lacht uns aus. Lasst niemanden den Süden wegen Lynchjustiz kritisieren. Vielmehr soll er überlegen, ob Lynchjustiz nicht besser ist, als keine Gerechtigkeit zu erfahren.“ Watsons politischer Ver­bündeter, Joseph M. Brown, der ehemalige Gouverneur von Georgia und Slatons direkter Vorgänger, rief am 8. August, nur Tage vor Leo Franks Lynchmord, die Be­völkerung auf, Lynchmobs zu bilden und plante Franks Ermordung.

    Die Tradition der Lynchjustiz

    Lynchjustiz (die nicht ge­richtlich angeordnete Hin­richtung eines Menschen durch eine Gruppe von mindestens drei Personen, häufig unter dem Vorwand der Gerechtigkeit zu die­nen) war in den Südstaaten noch sehr verbreitet und wurde als Mittel angesehen, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen, insbe­sondere dann, wenn die of­fizielle Gerichtsbarkeit dem Bedürfnis nach Vergeltung nicht Genüge getan hatte. 

    Im Fall Leo Frank war genau das passiert. Ihrer Meinung nach hatte Gouver­neur Slaton seinen Eid, die Verfassung und die Ehre des Staates Georgia zu schützen, gebrochen. Er hatte das von ihnen bejubelte Todesur­teil umgewandelt und sie damit um ihre Vergeltung gebracht. Hoch angesehene Mitglieder der Gesellschaft wie z.B. ein ehemaliger Gou­verneur von Georgia, meh­rere Richter, der ehemalige Bürgermeister von Marietta, ein zukünftiger Bürgermei­ster von Marietta, Polizeibe­amte, weitere Juristen, aber auch der Onkel von Mary Phagan und andere ritter­liche Gentlemen empfanden es nun als eine Frage der Ehre, den Mord an „der klei­nen Mary Phagan“ zu süh­nen. Bezeichnenderweise nannte sich die Gruppe, die Leo Frank in der Nacht vom 17. August 1915 aus dem Gefängnis entführte und in Marietta, dem Heimat­ort von Mary, lynchte, „The Knights of Mary Phagan.“ (Mary Phagans Ritter). Kei­ner von ihnen wurde je für diese Tat zur Rechenschaft gezogen.

    Viele von ihnen folgten später dem Aufruf Tom Wat­sons im „Jeffersonian“ vom 2. September 1915 zur Wie­derbelebung des Ku Klux Klans. Die Zeremonie fand am 13. November 1915 auf dem Stone Mountain in der Nähe von Atlanta statt und demonstrierte eindrücklich die Wiederbelebung der Organisation, die ursprüng­lich von Konföderiertenve­teranen gegründet worden war, um die „Lebensweise der Südstaaten zu schüt­zen“ und Angst und Schre­cken unter der afroameri­kanischen Bevölkerung zu verbreiten. Lynchen war dabei an der Tagesordnung, allerdings hatte diese Grup­pe nun ein weiteres Feind­bild außer den Afroameri­kanern, und das waren die Juden. Das Lynchen von Schwarzen wurde als De­monstration der Überle­genheit der weißen Rasse angesehen. Durchschnitt­lich zwei Lynchmorde pro Woche wurden verübt, zum Teil mit Volksfestcharakter. Groß angelegte Lynchakti­onen mit über tausend Sen­sationslustigen waren keine Seltenheit, wobei in 80% der Fälle afroamerikanische Bürger gelyncht wurden. Leo Frank ist das einzig be­kannte jüdische Opfer eines Lynchmordes in den USA. Auch bei ihm geht man von etwa tausend Schaulustigen aus, die im Laufe des Tages zur Hinrichtungsstätte ka­men, um ihn hängen zu se­hen. 

    Rassismus

    Das Gesicht von Atlanta hatte sich 1906 nach den Rassenunruhen mit über 100 Toten verändert. Die Rassentrennung wurde noch deutlicher und rigoro­ser durchgesetzt. Die Stadt war anfälliger für Populis­mus und Propaganda, und die unterschwelligen Span­nungen konnten sich jeder­zeit entzünden. Die Presse der Stadt lag unter anderem in den Händen von Tom Watson, einem rassistischen und antisemitischen Po­pulisten, der sich die Stim­mung zunutze machte, um seine politische Karriere voranzutreiben. Es gelang ihm auch: 1920 wurde er in den US-Senat gewählt. Bereits die Rassenunruhen hatten sich an einem von seiner Zeitung herausge­brachten Artikel über den unbestätigten Überfall von Afroamerikanern auf wei­ße Frauen entzündet. Der Rassismus beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Dis­kriminierung der afroame­rikanischen Bevölkerung, sondern der Gedanke einer überlegenen weißen Rasse (white supremacy) machte sich breit.

    Ironischerweise stützte sich die Verteidigung von Leo Frank ebenfalls auf ras­sistische Vorurteile, um Jim Conley zu diskreditieren. Sie bezeichneten ihn als ty­pischen „Neger, der meist betrunken irgendwo he­rumliegt, dumm und faul ist und durch und durch krimi­nell.“ 

    Auch das wurde Leo Frank aus zwei Gründen zum Verhängnis: Zum einen traute man einem „dummen Neger“ ein so gerissenes Ver­brechen nicht zu, und daher könne Jim Conley nicht der Mörder sein. Zum anderen befand man, wäre die Verur­teilung eines Negers ein zu niedriger Preis, um den Tod „der kleinen Mary Phagan“ zu sühnen, denn das Leben eines Negers sei nicht wert­voll genug. In einer Zeit, in der arme weiße Familien be­schämt und schuldbewusst ihre Töchter zum Arbeiten in die Fabriken schicken mussten, verlangte der bru­tale Mord an einem unschul­digen Mädchen nach einem gerisseneren Schurken als einem betrunkenen schwar­zen Hausmeister wie Jim Conley oder einem stam­melnden schwarzen Nacht­wächter wie Newt Lee.

    So kam die Verhaftung eines Juden, und dann noch eines Yankeejuden wie ge­rufen, denn auch die Juden standen unter pseudowis­senschaftlicher Beobach­tung hinsichtlich rassischer Merkmale. Ihnen sagte man nach, besondere Merkmale ihrer Rasse seien intelligente Verschlagenheit, trügerische Wortgewandtheit und sexu­elle Perversion. Im Fall Leo Frank wurden diese Katego­rien immer wieder als „Be­weis“ dafür herangezogen, dass Jim Conley ihm in jeder Hinsicht unterlegen sei und daher nicht der Mörder sein könne. 

    Es scheint daher erstaun­lich, dass ein Weißer auf­grund der sich auch noch widersprechenden Aussa­gen eines Schwarzen verur­teilt wurde. Der Rassismus war aber inzwischen so weit gediehen, dass man ernst­haft bestritt, dass die Juden überhaupt zur vermeintlich überlegenen weißen Rasse gehörten. Demzufolge sa­hen sie Leo Frank nicht als einen der ihren an, der sich gegen die Anschuldigungen eines Schwarzen zur Wehr setzen musste. Leo Frank war keiner von ihnen. Er war Jude.

    Der Rassismus rettete Jim Conley das Leben und kostete Leo Frank das seine.

    Ehrgeiz und Karrieresucht

    Tom Watson, der außerdem Mitbegründer der Populist Party war, hatte ein Interes­se daran, sich als Advokat der geschundenen weißen Bevölkerung aufzuspielen. Seine reißerischen antise­mitischen und rassistischen Hetzkampagnen, die die Wut der Bevölkerung wei­ter schürten und ihn als Sprecher der kleinen Leute emporhoben, brachten ihm viele Wählerstimmen ein. Für ihn war die Verurteilung Leo Franks ein persönlicher Erfolg, zu dem er beigetra­gen hatte und für den er sich feiern ließ. Ein anderer angehender Po­litiker profitierte ebenfalls von der Verurteilung. Mehr noch, es war für ihn die letzte Chance, einen Erfolg in seiner Karriere zu verbu­chen. Hugh Dorsey, der Be­zirksstaatsanwalt, hatte den Ruf, jeden Fall zu verlieren, dem er zugeteilt war. Selbst Fälle, die klar auf der Hand zu liegen schienen, verlor er. Daher versuchte er um jeden Preis, eine Verurtei­lung von Leo Frank herbei­zuführen. Er brauchte einen Erfolg vor Gericht, wollte er jemals eine politische Positi­on bekleiden. Und auch für ihn hat sich die Verurteilung von Leo Frank schließlich bezahlt gemacht. Hugh Dor­sey wurde 1916 Gouverneur von Georgia. 

    Ein vielschichtiger Fall

    Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Verzweiflung der Menschen aufgrund des ver­lorenen Krieges und der Ver­lust der kulturellen Identität hatten die Menschen verbit­tert. In der Zeit des Wieder­aufbaus nach dem Krieg ent­wickelte sich ein explosives Gemisch unterschiedlicher sozialer Konflikte. Es fand keine Aussöhnung statt, die Rassenkonflikte schwelten ebenso weiter wie die Span­nungen zwischen den sozi­alen Schichten. Frustration schlug in Wut um und en­dete in gewaltsamen Aus­schreitungen, da sich die Menschen erniedrigt und verraten fühlten. Die Men­schen nahmen die Gesetze in die eigene Hand und verübten Lynchjustiz. Oft wurden diese durch antise­mitische und propagandi­stische Presseartikel unter­stützt, hinter denen häufig skrupellose, ehrgeizige und machthungrige Politiker steckten. 

    In diesem Spannungs­feld ist der Fall Leo Frank zu sehen. Ein Fall, der die Men­schen noch heute beschäftigt und der nicht ruhen kann und will. Die Großnichte von Mary Phagan, Mary Phagan Kean bringt 1988 ein Buch heraus, in welchem sie „Beweise“ für die Schuld Leo Franks darlegt. Am To­destag ihrer Großtante steht sie mit ihrem Bild an ihrem Grab und klagt Leo Frank an. Zahlreiche Websites, die den White Supremacists zu­zuordnen sind, überbieten sich in diffamierender Aus­drucksweise die vom notgei­len perversen Juden bis zum pädophilen Serienvergewal­tiger reichen. Die jüdische Anti Defamation League, die um die Zeit des Falles gegründet wurde, bemühte sich stets um die vollstän­dige Rehabilitierung Leo Franks. Unzählige Bücher wurden von beiden Seiten über den Fall geschrieben, Filme und Dokumentati­onen gedreht. Und schließ­lich gibt es das Musical „Parade“. Der Grund, wes­halb Sie heute hier sind.

    Von Silke Eisenrichter